Felix, der Glückliche

Manche Mendelssohn-Biographen konnten der Verlockung nicht widerstehen, über „nomen“ und „omen“ nachzudenken, also darüber, ob „Felix“, der Glückliche, nicht zu glücklich war, um einer der ganz Großen zu werden – was die Annahme voraussetzt, dass das Schöpfer-Genie erst durch Leid, Elend, Verdruss, Armut, Misserfolg, Kampf gegen Unglück und vielleicht proletarische Herkunft erst in den Stand versetzt wird, Unvergängliches zustande zu bringen, dass es erst „dem Schicksal in den Rachen greifen“ muss, um sich in die Kunstgeschichte und das Weltgedächtnis einzugravieren.

Es ist wahr – Mendelssohn ist in ungefährdetem Wohlstand aufgewachsen, der die sorgfältigste Erziehung ermöglichte: die besten Lehrmeister, Bildungsreisen, das angemietete Orchester für die Sonntagsmusik, dazu ständige prominente Hausgäste zwischen Hegel, Heine und Humboldt. Sorgfältige – das war strenge Erziehung, hieß um fünf Uhr allmorgendliches Aufstehen, Geschichte, Griechisch, Latein büffeln, Naturwissenschaften, zeitgenössische Literatur, Zeichnen, Malen – und natürlich Musik.

So ambitionierte pädagogische Exerzitien brauchen, um Früchte zu tragen, einen Adressaten, der mit derlei hochkarätigen Bildungsimpulsen etwas anzufangen weiß – und da steht man auch heute noch fassungslos vor den Möglichkeiten, Fähigkeiten und Begabungen des jungen Felix. Auf der naturgegebenen Basis eines perfekten Gehörs und wahrscheinlich fotografischen Gedächtnisses, blitzschneller Reaktions- und Kombinationsgaben wurde er – nach entsprechenden Wunderkind-Anfängen – der erfolgreichste Komponist seiner Zeit, einer der besten Pianisten, eindrucksvollsten Dirigenten (berühmt und ein wenig gefürchtet übrigens wegen seiner schnellen Tempi), wahrscheinlich der bedeutendste Organist, wäre vermutlich, wenn er gewollt hätte, einer der größten Geiger geworden und – wenn er Zeit gehabt hätte – ein erfolgreicher Maler. Und wer seine Briefe liest, wird seine literarische Begabung samt der Fähigkeit zur Ironie nicht wesentlich unter der Heinrich Heines ansiedeln. Nicht genug damit: er turnte, schwamm, war ein guter Reiter, ein hinreißender Tänzer – wie „ein gebildeter Sturmwind“ habe er getanzt, meinte Rahel Varnhagen -, und wer es mal auf die Spitze des Faulhorn im Berner Oberland geschafft hat, wird auch höchsten Respekt vor dem Bergsteiger Mendelssohn haben.

In seinen Reisen in Italien, Frankreich oder England bediente er sich mit Leichtigkeit der jeweiligen Landessprache. Und dann sah er noch sehr gut aus, kleidete sich mit Geschmack, hatte ausgezeichnete Manieren, war kommunikationsfreudig, fand sofort und überall Freunde. Goethe, der seinen Umgang sorgsam auswählte, mit Sympathie und Lob immer sparsamer umging, war regelrecht vernarrt in den zauberhaften Zwölfjährigen, den sein Berliner Duzfreund Zelter ihm nach Weimar gebracht hatte. Täglich wurden Freundschaftsküsse ausgetauscht zwischen dem Olympier und dem ebenso munteren wie unerklärlich begabten Jungen. „Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe“ sagte Goethe zu Felix’ Mutter Lea, „schicken Sie ihn mir recht bald wieder, dass ich mich an ihm erquicke.“

Kein Wort des Staunens – und vielleicht nicht einmal der Vergleich mit Mozart – reicht an die Jugendgenialität des Komponisten Mendelssohn heran, der mit 16 das Streichoktett, mit 17 die Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ schrieb – Musik, die so lange gespielt werden wird, wie die Menschheit sich mit den Gattungen Kammermusik und Sinfonik abgeben wird.

Mendelssohn wurde der bewunderte Favorit des allmählich erwachenden Bürgertums, das gerne im „massenhaften“ Solidaritätserlebnis von Musikfesten auch ein wenig Demokratenluft schnupperte; aber er wurde auch – Aristokrat im Auftreten und in seiner Musik – von Aristokraten umworben, von den Königshäusern Preußen, Sachsen und England. Rührend und vielgeschildert die Szene im Buckingham Palace, als Mendelssohn mit Queen Victoria und ihrem deutschen Prinzgemahl Albert in familiärer Runde zusammentraf, man miteinander musizierte und sang, wobei sich herausstellte, dass die königlichen Hoheiten die Chöre aus Mendelssohns Oratorium „Paulus“ ebenso kannten wie seine Lieder.

Friedrich Nietzsche hat Mendelssohn in einem berühmten Wort den „schönen Zwischenfall der deutschen Musik“ genannt – das war ziemlich freundlich gemeint, trifft aber, wie alle Aphorismen, nur einen Teil. Zwischenfälle sind unvorhersehbar und folgenlos. Unvorhersehbar war Mendelssohn nur in dem Sinne, dass das Auftreten von Genies nicht planbar ist. Zu seiner Mission gehörte aber, alle Traditionen deutscher Musik zusammenzufassen, so dass Robert Schumann feststellen konnte, Mendelssohn habe „die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt“. Und folgenlos? Abgesehen von seinen Kompositionen und gar der Erfindung musikalischer Gattungen: Mendelssohn hat mit seiner Arbeit als Leipziger Gewandhaus- und Konservatoriumsdirektor die Strukturen unseres heutigen Musiklebens programmiert, er hat – nicht nur durch die Wiederaufführung der Matthäuspassion – dafür gesorgt, dass sich so etwas wie ein musikgeschichtliches Bewusstsein bildete. Angesichts der 38 Jahre, die er nur zur Verfügung hatte, mutet sein Lebens-Arbeits-Pensum unglaublich an. Immer liegt einem die Frage auf den Lippen: „Wann hat er das nur alles gemacht?“ Hunderte von Kompositionen, an die 7000 Briefe, ein Tourneeplan, der sich mit denen heutiger Jet-Set-Musiker messen kann, Unterrichten – und Vater von fünf Kindern war er auch noch!

Was an Bewunderungsworten für eine solche Ausnahmeerscheinung nur aufzutreiben war, findet sich bereits in Robert Schumanns „Erinnerungen an Felix Mendelssohn“ – sie gipfeln darin, dass er ihn „einen wahren Gott“ nennt.

Dass dieses Denkmal eines Göttergleichen vom Sockel gestürzt wurde – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn 1936 in Leipzig – gehört auf das Schuldenkonto und zu den Traumata der deutschen Geschichte und Nation. Der „Fall“ Mendelssohn ist keine schlichte Musiker-Biographie.

Die hat eigentlich im Jahre 1743 zu beginnen, als ein kleiner, missgebildeter, des Deutschen kaum mächtiger, etwa 14jähriger Jude von feixenden Uniformierten durchs Rosenthaler Tor nach Berlin eingelassen wird – nur hier durften Juden die preußische Hauptstadt betreten. Der Junge hieß Mosche Ben Mendel – Moses, Sohn des Mendel – aus Dessau, und er wollte zu seinem ehemaligen Talmudlehrer, dem neuen Berliner Oberrabbiner Fränkel, um weiterzulernen. Das tat er so gründlich, aber auch so relativ unabhängig von jüdischer Orthodoxie, dass er dank seines überragenden Intellekts zum Philosophen der Aufklärung – der deutschen und jüdischen – werden konnte. Moses war das Vorbild für Lessings „Nathan der Weise“, der den rechthaberischen, alleinseligmachenden Ansprüchen der Religionen die Humanität der Toleranz entgegenhielt. Als er eines Tages in Königsberg vor einer Vorlesung Immanuel Kants inkognito den Hörsaal betrat, wurde er von den Studenten verhöhnt; als Kant kam, ihn erblickte, erkannte, umarmte und schließlich die Beiden Hand in Hand den Saal verließen, wurde größte Ehrerbietung bekundet. Die Szene steht beispielhaft für die gespaltene Existenz Moses Mendelssohns – verachtet als Jude, verehrt als Geistesmensch -, ein Balanceakt zwischen zwei Kulturen, der den Juden als – wie der Soziologe und Musikwissenschaftler Alphons Silbermann sagte – „dialektisches Stigma“ blieb. Hauchdünn war – nicht nur in Deutschland – die Schicht aufgeklärter, unvoreingenommener Menschen, die damit umgehen konnten. In Berlin, wo jüdische Gemeinden und Christen sich aufeinander zubewegt hatten, war das Klima für unbefangenen Umgang miteinander am günstigsten, wiewohl auch hier die Ressentiments jederzeit abrufbereit lauerten.

Abraham Mendelssohn, Sohn des Moses, Vater von Felix, eher ein Skeptiker und Vernunftethiker, war, wie seine hochkultivierte Frau Lea der Lessingschen Ansicht, dass „eine Kulturreligion so viel wert sei wie die andere“ und ließ seine beiden Söhne nicht nur nicht beschneiden, sondern alle vier Kinder – die in Hamburg geborenen Fanny, Felix, Rebecka und den in Berlin geborenen Paul – 1816 taufen (da war Felix sieben) und wurde selbst mit seiner Frau sechs Jahre später evangelisch – bei diesem Anlass fügte er dem Familiennachnamen den „Bartholdy“ hinzu. Dies alles geschah mit sehr viel seriöseren und skrupelhafteren Überlegungen, als es Heinrich Heines berühmte, zynische Verse suggerieren wollen:

„Der Abraham hatte mit Lea erzeugt
Ein Bübchen, Felix heißt er
Der brachte es weit im Christentum
Ist schon Kapellenmeister.“

Aber wie bei Heine war und blieb das Thema „Judentum“ in der Familie Mendelssohn stets virulent, kam – zu unterschiedlichen Gelegenheiten, mit unterschiedlicher Intensität und Akzentuierung – ans Tageslicht: Da gab es die beiden orthodoxen Großmütter, die man nicht verletzten wollte, dann die intelligente, begabte und nicht nur in diesem Punkt meist ätzend ironische Schwester Fanny, die berühmt-berüchtigte Tante Dorothea Schlegel, die nicht nur evangelisch und dann katholisch geworden, sondern auch erotisch voll emanzipiert war, Mutter Lea, die sich darüber aufregt, dass eine Schwägerin an ihrem Neugeborenen die „Kannibalenzeremonie“ der Beschneidung habe durchführen lassen und Vater Abraham, der Felix barsch ermahnte, das Bartholdy im Nachnamen nicht immer zu unterdrücken, denn „einen christlichen Mendelssohn kann es nicht geben.“ Felix selbst ging ziemlich „cool“ – wie man heute sagen würde – damit um, gelegentlich mit Selbstironie. Sein Freund, der Schauspieler Eduard Devrient, erinnerte sich, dass Felix, als sie beide unterwegs waren, um die Solisten für die Wiederaufführung der Matthäuspassion zu benachrichtigen, mitten auf dem Opernplatz ausrief: „…dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!“ Auch die Christen erinnerten sich seiner Herkunft – in der Regel mit unguten Absichten. Als er 1833 mit seiner Bewerbung um die Nachfolge Zelters als Leiter der Berliner Singakademie scheitert, sollen antisemitische Ressentiments eine Rolle gespielt haben – man will es nicht glauben, sind doch der schon berühmte Felix und Schwester Fanny seit 13 Jahren Mitglieder und die Eltern seit zwei Jahrzehnten Mäzene des Vereins. Aber hatte nicht auch Carl Friedrich Zelter damals, als er Goethe das junge Genie ankündigte, jene briefliche Äußerung getan, über deren definitiven Sinn man immer wieder ins Grübeln gerät: „Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude.“

Die Möglichkeit, kein Jude zu sein, räumte die 1850, drei Jahre nach Mendelssohns Tod erschienene Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“ ihm erst gar nicht mehr ein. Ein „Karl Freigedank“ – alias Richard Wagner – hatte sie verfasst, und sie war so perfide, dass sich die Nationalsozialisten gut 80 Jahre später keine neuen Lügen einfallen lassen mussten, um Mendelssohn zu verunglimpfen, ihm „undeutsches Komponieren“ vorzuwerfen, ihm, der doch nach einer seiner zahlreichen Auslandsreisen erleichtert zurückgekehrt war mit den Worten: „Da merkte ich, dass ich ein Deutscher bin und in Deutschland wohnen wolle, solange ich es könne…“

Das Nachdenken über Mendelssohn war nach 1945 lange Zeit blockiert, zum Teil auch, weil die schrecklichen Musikwissenschaftler, die ihr Fähnchen so bereitwillig und ehrlos in den antisemitischen Wind gehängt hatten, bald wieder im Amt waren. Aber das ständige Gerede von „Glück“ und „Sorglosigkeit“, das sein Leben und Werk unaufhörlich begleitet habe, war und ist ja ohnehin ein Klischee. Und dieser Mann ist ja gar nicht – wie es ein anderes Klischee will – mit 38 Jahren als Götterliebling „sanft entschlafen“, sondern er starb gehetzt, überarbeitet, ausgebrannt, entsetzt und untröstlich über den Tod der geliebten Schwester Fanny. Natürlich hatte er Spannungen auszuhalten, die Zerreißproben der Identitätssuche, von der kaum je große Frauen und Männer jüdischer Herkunft verschont blieben. Ein Blick auf die von ihm komponierten oder dirigierten großen Vokalwerke gibt einen Eindruck davon: die christliche Matthäuspassion, die heidnisch-antichristliche „Erste Walpurgisnacht“ auf den Goethe-Text, „Paulus“, das Drama der Bekehrung des Juden Saulus, Händels Oratorium „Israel in Ägypten“ mit der Heldenrolle des Volkes Israel, der gänzlich alttestamentarische „Elias“ und endlich das Christus-Oratorium, das unvollendet blieb.

Natürlich komponierte Mendelssohn nicht so exzentrisch wie Schumann, Berlioz, Wagner oder Chopin, und man hat es ihm vorgehalten – aber er war auch nicht vom Wahnsinn bedroht, kein Exhibitionist, kein Monomane und kein fiebernder Neurastheniker. Dafür aber haben seine Kompositionen häufig eine Mischung aus federnder Eleganz, Anmut und Feuer, wie man sie in deutscher Musik allenfalls noch bei frühen Schubert-Sinfonien findet. Wie souverän entzieht er sich dem übergroßen Schatten seines Noch-Zeitgenossen Beethoven, nachdem er in den Streichquartetten op.12 und 13 noch an dessen späte Quartette angeknüpft hatte! Und wie wird er zum rücksichtslosen Expressionisten, als er in seinem letzten Quartett, dem in f-moll, seiner Trauer um die Schwester Ausdruck geben muss!

Wie sagte doch Schumann: „Er ist ein herrlicher Mensch….und das Zusammenkommen mit ihm gibt mir neuen Aufschwung und viel Genuss.“

Jean Sibelius

Jean SibeliusJean Sibelius gilt in aller Welt als der berühmteste finnische Komponist. Doch schon zu Lebzeiten löste er kontroverse Reaktionen aus: Bewunderer und Kritiker standen sich unversöhnlich gegenüber. Er selbst formulierte 1911, auf der Höhe seines Ruhms: „Meine Musik hat absolut nichts von Zirkus. Was ich zu bieten habe, ist klares, kaltes Wasser.“ Die tief gespaltene Aufnahme seines Schaffens in der musikalischen Welt war unter Umständen einer der Gründe, warum er – der letzten Endes mit einem Alter von 92 Jahren einer der langlebigsten Komponisten der Musikgeschichte werden sollte – bereits kurz nach seinem 60. Lebensjahr seine letzte Komposition in Druck gehen ließ und später die Manuskripte seither begonnener Werke, inklusive seiner möglicherweise vollendeten 8. Sinfonie, vernichtet hat.

Am 8. Dezember 1865 wurde Johan Christian Julius Sibelius als Sohn eines Arztes in Hämeenlinna, einer Stadt auf halber Strecke zwischen Helsinki und Tampere, geboren. Die Familie Sibelius gehörte der schwedisch sprechenden Minderheit in Finnland an, doch wurde bereits der Knabe auf eine finnischsprachige Schule gegeben, so dass die für seine Lebenszeit immer noch virulente Auseinandersetzung der beiden Landessprachen in Sibelius’ Biographie keine bedeutende Rolle gespielt hat. In seiner Musik hat er vielfach Themen der finnischen Nationalmythologie behandelt, die besonders seit Elias Lönrots Aufzeichnung und Veröffentlichung der alten Volksdichtung Kalevala seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Fundament für ein wachsendes finnisches Nationalbewusstsein bildete.

Früh schon zeigte sich die musikalische Begabung von Janne (so wurde er als Kind in der Familie genannt), und mit Beginn des Frühlingssemesters 1886 begann er an der Musikschule Helsinki, der Vorgängerinstitution der heutigen Sibelius-Akademie, das Musikstudium. Gleichzeitig nahm er den Vornamen Jean an, nachdem er einen Stapel Visitenkarten seines verstorbenen Onkels Johan Sibelius mit der französischen Form des Vornamens entdeckt hatte: „Jean ist jetzt mein Name als Musiker“, so bezeugt eine Briefstelle die Entscheidung. Ursprünglich als Geiger ausgebildet, verlegte sich der junge Mann bald auf die Komposition. Im Studium traf Sibelius den aus Deutschland gekommenen Ferruccio Busoni und Armas Järnefelt, seinen späteren Schwager; die drei wurden zum Kern eines Musikerkreises, der den heranwachsenden Komponisten zu zahlreichen Kammermusikwerken inspirierte. Nach zwei Jahren der Weiterbildung in Berlin und Wien, wo er wichtige Eindrücke von den Komponisten Robert Fuchs und Karl Goldmark erhielt, kehrte Sibelius 1891 nach Finnland zurück, konnte sich zügig in der wachsenden kulturellen Szene der Hauptstadt profilieren und heiratete im Juni 1892 Aino Järnefelt, deren drei Brüder zur damaligen finnischen Avantgarde gehörten: Armas als Musiker, Arvid als Schriftsteller und Eero als Maler.

In den 1890er Jahren entstanden zentrale Werke wie Kullervo, die Karelia-Suite und Finlandia, das neue Jahrhundert war geprägt vom internationalen Erfolg seiner Sinfonien und des Violinkonzerts. Dennoch war der Aufstieg von Jean Sibelius in die Elite der internationalen Komponisten von Anfang an durch scharfe Auseinandersetzungen über seine Musik begleitet, die zwar vom zeitgenössischen Publikum immer wieder begeistert aufgenommen wurde, von konservativen Kritikern allerdings zunächst als „pathologisch“ und „verworren“ bezeichnet wurde. Später gelangte er durch seine Enthaltung gegenüber den für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmenden Kompositionstechniken von Atonalität und Zwölftontechnik ebenso in die Kritik (Wortführer wurde hier Theodor W. Adorno) wie durch den Umstand, dass führende Nationalsozialisten sich für seine Musik begeisterten. Man kann sich seine Freunde nicht aussuchen: „Diese primitive Denkart – Antisemitismus etc. kann ich ja in meinem Alter nicht mehr gutheißen. Meine Bildung und Kultur passen nicht zu diesen Zeiten“, notiert Sibelius am 6. September 1943 in sein Tagebuch.

Die jahrzehntelange Überbewertung avantgardistischer Fortschrittsmodelle in der zeitgenössischen Komposition wurde in der Wende des 20. zum 21. Jahrhundert überwunden; so scheint jetzt auch die Zeit gekommen, die Musik von Jean Sibelius als wichtigen Beitrag zum klingenden Abbild seiner nahezu ein Jahrhundert währenden Lebenszeit neu zu würdigen. Die in dieser Konzertreihe erklingenden Kompositionen bilden kammermusikalisch einen roten Faden durch wichtige Thematiken seines Schaffens: Der lebenslang virulente Themenkomplex „Tod und Sterben“ schlägt den Bogen von der 1900 wenige Monate nach dem Tod der Tochter Kirsti an Typhus uraufgeführten Malinconia op. 20 für Cello und Klavier bis zur 1931 anlässlich des Todes des befreundeten Malers Akseli Gallen-Kallela entstandenen Trauermusik op. 111b für Orgel. Das 1909 komponierte und als op. 56 veröffentlichte Streichquartett Voces Intimae ist das bekannteste Kammermusikwerk aus Jean Sibelius’ Feder. Die Entstehung dieser überaus persönlichen Komposition war von Krisen und Selbstzweifeln überschattet, deren künstlerisch gemeisterte Spiegelung im Werk sich am bekenntnishaften Titel Voces Intimae zeigt, den Sibelius dem Stück mit auf seinen Weg gab. Er selbst war schließlich mit dem Quartett hoch zufrieden: „Es wurde wunderbar. So ein Werk, das das Lächeln sogar noch auf dem Sterbebett auf die Lippen bringt. Das ist alles, was ich dazu sagen kann“, schrieb er seiner Frau Aino nach der Vollendung des Stückes. Während die enge Verbindung von Jean Sibelius zur Natur seiner finnischen Heimat als Grundthema seiner sinfonischen Musik im Vergleich zum intellektuellen Wert seines Schaffens vielleicht gelegentlich überbewertet worden ist, stellt seine mit dem einfachen Titel Cinq morceaux überschriebene Baumsuite op. 75 ein besonders feinsinniges Porträt seines Vaterlandes dar. Die Klavierminiaturen sind in den Jahren 1914-19 (während der Jahre also, als Finnland seine staatliche Freiheit errang) entstanden; in ihnen werden fünf Bäume musikalisch abgebildet, die mit ihren Wurzeln im Heimatboden gründen und aus ihm die Kraft für ihre jeweilige Eigenart ziehen. Dieser mit einer Dauer von weniger als 15 Minuten kleinen Stückfolge ist innerhalb der Klaviermusik von Jean Sibelius ein ganz besonderer Erfolg zuteil geworden.

Detmar Huchting.

Niklas Schmidt

Niklas Schmidt

Niklas Schmidt präsentiert nun erstmalig vom 16. bis 28. September 2015 das International Mendelssohn Festival IMF in Hamburg. Er führt damit seine Konzertreihe Fontenay Classics, die Schubertiade und die Mendelssohn Summer School zu einem großen Ganzen zusammen.

Der Cellist Niklas Schmidt studierte zunächst in Hamburg und später in Köln und war regelmäßiger Gast in der Menuhin-Akademie in Gstaad. 1980 gründete er gemeinsam mit dem Geiger Michael Mücke und dem Pianisten Wolf Harden das Trio Fontenay. Für die Schallplattenfirmen Teldec, EMI und Philips hat er mit dem Trio fast die gesamte Literatur für dieses Genre auf CD eingespielt; die meisten der Aufnahmen erhielten nationale und internationale Auszeichnungen, u.a. Deutscher Schallplattenpreis 1994 für die Gesamteinspielung der Beethoven-Trios und den Diapason d’Or.

Das Trio Fontenay gastierte in den bedeutendsten Sälen der Welt u.a. in der Carnegie Hall in New York, Salle Gaveau in Paris, Wigmore Hall, Queen Elisabeth Hall und Royal Festival Hall in London, und im Herkulessaal in München, es konzertierte bei internationalen Festivals wie den Salzburger Festspielen, dem Festival de Montpellier, Schleswig-Holstein Musik Festival oder dem Festival de Montréal sowie beim Kissinger Sommer und der Schubertiade in Österreich. Seit seinem Amerika-Debüt 1986 unternahm das Ensemble außerdem jährlich ein bis zwei große USA-Tourneen. Eine besondere Auszeichnung für die drei Musiker war auch die Ernennung des Ensembles zum Trio en Résidence au Châtelet in Paris. Ende 1997 schied Niklas Schmidt als Cellist aus dem Ensemble aus.

Vermehrt tritt er seitdem solistisch aber auch in unterschiedlichen Kammermusik-Formationen auf. Mit Menahem Pressler spielte er die Arpeggione-Sonate in Washington D.C. und in Hamburg die Beethoven-Sonaten. Mit Mitgliedern der Quartette Alban Berg, Cleveland, Guarneri und Juilliard spielte er das Schubert-Streichquintett. Mit Orchester spielte er zuletzt häufiger die beiden Haydn-Konzerte, 2013 gastierte er in China mit Don Quijote von Richard Strauss. Weitere Partner sind Nobuko Imai, Michel Lethiec, Ralf Gothóni, das Auryn Quartett und das Fine Arts Quartett und viele andere. Regelmässig wird Niklas Schmidt zu renommierten Musikfestivals eingeladen, wie das Casals-Festival in Prades, das Musikfestival im finnischen Naantali oder die Musikfestspiele Mecklenburg-Vorpommern. Im August 2012 erschien die CD The Singing Cello mit Schuberts Arpeggione und Beethovens sämtlichen Variationen für Violoncello und Klavier mit seinem Klavierpartner John Chen. 2014 folgte eine CD mit Werken von Richard Strauss und Sergej Rachmaninow, und im gleichen Jahr die Suiten für Violoncello solo I, III und VI von Johann Sebastian Bach.

Seit 1987 lehrt Prof. Schmidt Kammermusik und Violoncello an der Hochschule für Musik in Hamburg. Außerdem wird er regelmäßig zu Kursen in aller Welt eingeladen, u.a. in Paris, Helsinki, Nizza, Montréal, New York, Hongkong und Shanghai.

Niklas Schmidt war Juror bei den internationalen Wettbewerben in Hamburg, Melbourne, Reggio Emiglia (Borciani) und Wien.

Niklas Schmidt leitet seit 1999 die renommierte Hamburger Kammermusikreihe Fontenay Classics (früher Kammerkonzerte im Mozartsaal), in der weltweit führende Ensembles und Solisten auftreten. Im Rahmen dieser Reihe findet – nach einer Schubertiade 2011, einer Brahmsiade 2013, und einer weiteren Schubertiade 2014, das erste Mendelssohn Festival (IMF) 2015 statt. Er ist außerdem Direktor des International Mendelssohn Summer School Festivals in Hamburg und des Internationalen Kammermusikwettbewerbs Hamburg ICMC. 2010 gründete er sein eigenes Label mit dem Namen Fontenay Classics International FCI, bei dem bereits neun CDs erschienen sind.

Niklas Schmidt spielt auf einem Rogeri-Cello (Brescia) aus dem Jahre 1700.