Jean Sibelius

Jean SibeliusJean Sibelius gilt in aller Welt als der berühmteste finnische Komponist. Doch schon zu Lebzeiten löste er kontroverse Reaktionen aus: Bewunderer und Kritiker standen sich unversöhnlich gegenüber. Er selbst formulierte 1911, auf der Höhe seines Ruhms: „Meine Musik hat absolut nichts von Zirkus. Was ich zu bieten habe, ist klares, kaltes Wasser.“ Die tief gespaltene Aufnahme seines Schaffens in der musikalischen Welt war unter Umständen einer der Gründe, warum er – der letzten Endes mit einem Alter von 92 Jahren einer der langlebigsten Komponisten der Musikgeschichte werden sollte – bereits kurz nach seinem 60. Lebensjahr seine letzte Komposition in Druck gehen ließ und später die Manuskripte seither begonnener Werke, inklusive seiner möglicherweise vollendeten 8. Sinfonie, vernichtet hat.

Am 8. Dezember 1865 wurde Johan Christian Julius Sibelius als Sohn eines Arztes in Hämeenlinna, einer Stadt auf halber Strecke zwischen Helsinki und Tampere, geboren. Die Familie Sibelius gehörte der schwedisch sprechenden Minderheit in Finnland an, doch wurde bereits der Knabe auf eine finnischsprachige Schule gegeben, so dass die für seine Lebenszeit immer noch virulente Auseinandersetzung der beiden Landessprachen in Sibelius’ Biographie keine bedeutende Rolle gespielt hat. In seiner Musik hat er vielfach Themen der finnischen Nationalmythologie behandelt, die besonders seit Elias Lönrots Aufzeichnung und Veröffentlichung der alten Volksdichtung Kalevala seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Fundament für ein wachsendes finnisches Nationalbewusstsein bildete.

Früh schon zeigte sich die musikalische Begabung von Janne (so wurde er als Kind in der Familie genannt), und mit Beginn des Frühlingssemesters 1886 begann er an der Musikschule Helsinki, der Vorgängerinstitution der heutigen Sibelius-Akademie, das Musikstudium. Gleichzeitig nahm er den Vornamen Jean an, nachdem er einen Stapel Visitenkarten seines verstorbenen Onkels Johan Sibelius mit der französischen Form des Vornamens entdeckt hatte: „Jean ist jetzt mein Name als Musiker“, so bezeugt eine Briefstelle die Entscheidung. Ursprünglich als Geiger ausgebildet, verlegte sich der junge Mann bald auf die Komposition. Im Studium traf Sibelius den aus Deutschland gekommenen Ferruccio Busoni und Armas Järnefelt, seinen späteren Schwager; die drei wurden zum Kern eines Musikerkreises, der den heranwachsenden Komponisten zu zahlreichen Kammermusikwerken inspirierte. Nach zwei Jahren der Weiterbildung in Berlin und Wien, wo er wichtige Eindrücke von den Komponisten Robert Fuchs und Karl Goldmark erhielt, kehrte Sibelius 1891 nach Finnland zurück, konnte sich zügig in der wachsenden kulturellen Szene der Hauptstadt profilieren und heiratete im Juni 1892 Aino Järnefelt, deren drei Brüder zur damaligen finnischen Avantgarde gehörten: Armas als Musiker, Arvid als Schriftsteller und Eero als Maler.

In den 1890er Jahren entstanden zentrale Werke wie Kullervo, die Karelia-Suite und Finlandia, das neue Jahrhundert war geprägt vom internationalen Erfolg seiner Sinfonien und des Violinkonzerts. Dennoch war der Aufstieg von Jean Sibelius in die Elite der internationalen Komponisten von Anfang an durch scharfe Auseinandersetzungen über seine Musik begleitet, die zwar vom zeitgenössischen Publikum immer wieder begeistert aufgenommen wurde, von konservativen Kritikern allerdings zunächst als „pathologisch“ und „verworren“ bezeichnet wurde. Später gelangte er durch seine Enthaltung gegenüber den für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmenden Kompositionstechniken von Atonalität und Zwölftontechnik ebenso in die Kritik (Wortführer wurde hier Theodor W. Adorno) wie durch den Umstand, dass führende Nationalsozialisten sich für seine Musik begeisterten. Man kann sich seine Freunde nicht aussuchen: „Diese primitive Denkart – Antisemitismus etc. kann ich ja in meinem Alter nicht mehr gutheißen. Meine Bildung und Kultur passen nicht zu diesen Zeiten“, notiert Sibelius am 6. September 1943 in sein Tagebuch.

Die jahrzehntelange Überbewertung avantgardistischer Fortschrittsmodelle in der zeitgenössischen Komposition wurde in der Wende des 20. zum 21. Jahrhundert überwunden; so scheint jetzt auch die Zeit gekommen, die Musik von Jean Sibelius als wichtigen Beitrag zum klingenden Abbild seiner nahezu ein Jahrhundert währenden Lebenszeit neu zu würdigen. Die in dieser Konzertreihe erklingenden Kompositionen bilden kammermusikalisch einen roten Faden durch wichtige Thematiken seines Schaffens: Der lebenslang virulente Themenkomplex „Tod und Sterben“ schlägt den Bogen von der 1900 wenige Monate nach dem Tod der Tochter Kirsti an Typhus uraufgeführten Malinconia op. 20 für Cello und Klavier bis zur 1931 anlässlich des Todes des befreundeten Malers Akseli Gallen-Kallela entstandenen Trauermusik op. 111b für Orgel. Das 1909 komponierte und als op. 56 veröffentlichte Streichquartett Voces Intimae ist das bekannteste Kammermusikwerk aus Jean Sibelius’ Feder. Die Entstehung dieser überaus persönlichen Komposition war von Krisen und Selbstzweifeln überschattet, deren künstlerisch gemeisterte Spiegelung im Werk sich am bekenntnishaften Titel Voces Intimae zeigt, den Sibelius dem Stück mit auf seinen Weg gab. Er selbst war schließlich mit dem Quartett hoch zufrieden: „Es wurde wunderbar. So ein Werk, das das Lächeln sogar noch auf dem Sterbebett auf die Lippen bringt. Das ist alles, was ich dazu sagen kann“, schrieb er seiner Frau Aino nach der Vollendung des Stückes. Während die enge Verbindung von Jean Sibelius zur Natur seiner finnischen Heimat als Grundthema seiner sinfonischen Musik im Vergleich zum intellektuellen Wert seines Schaffens vielleicht gelegentlich überbewertet worden ist, stellt seine mit dem einfachen Titel Cinq morceaux überschriebene Baumsuite op. 75 ein besonders feinsinniges Porträt seines Vaterlandes dar. Die Klavierminiaturen sind in den Jahren 1914-19 (während der Jahre also, als Finnland seine staatliche Freiheit errang) entstanden; in ihnen werden fünf Bäume musikalisch abgebildet, die mit ihren Wurzeln im Heimatboden gründen und aus ihm die Kraft für ihre jeweilige Eigenart ziehen. Dieser mit einer Dauer von weniger als 15 Minuten kleinen Stückfolge ist innerhalb der Klaviermusik von Jean Sibelius ein ganz besonderer Erfolg zuteil geworden.

Detmar Huchting.